Wissenschaftsorientierung in Sexualstrafverfahren in Gefahr: Fortschritte und Opferinteressen stehen auf dem Spiel1
Susanna Niehaus & Andreas Krause
1 Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um einen Abdruck des ins Deutsche übersetzten Originalbeitrags „Threats to Scientifically Based Standards in Sex Offense Proceedings: Progress and the Interests of Alleged Victims in Jeopardy“ aus der Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 2023. https://doi.org/10.1515/mks-2023-0018. Der dieser Übersetzung zugrundeliegende Originalbeitrag wurde zum Jahreswechsel 2022/23 fertiggestellt, später erschienene Beiträge zum Thema (DER SPIEGEL) sowie darauffolgende Stellungnahmen von Berufsverbänden sind noch nicht enthalten.
Praxis der Rechtspsychologie 33 (2), November 2023, S. 153–192
Deutscher Psychologen Verlag GmbH, Berlin
https://doi.org/10.51625/pdr20230208
Zusammenfassung
In der Vergangenheit haben die Psychowissenschaften mit empirischen Forschungserkenntnissen dazu beigetragen, fehlerhafte Beurteilungen und Entscheidungen in Strafverfahren zu vermeiden. Seit einiger Zeit gibt es jedoch Entwicklungen, welche die Errungenschaft der Jahrtausendwende, dass eine deutliche Wissenschaftsorientierung Einzug in das Sexualstrafverfahren hielt, wieder rückgängig zu machen drohen. Fünf rückwärtsgewandte Entwicklungen werden aufgezeigt. Anhand dreier Beispiele wird illustriert, wie die Entwicklungen zusammenwirken können und insbesondere eine vermeintliche Erklärung für fehlende Erinnerungen an erlebten Missbrauch bieten. So entsteht ein Nährboden für die Ausbildung von Scheinerinnerungen, die sowohl in der Psychotherapie als auch im Strafverfahren Leiden verursachen und das Risiko für fehlerhafte Entscheidungen in Sexualstrafverfahren im deutschsprachigen Raum deutlich erhöhen.
Schlagworte: Glaubhaftigkeitsbeurteilung, Opferschutz, Sichtbarkeit des Opfers, Scheinerin-nerungen, Sexualstrafrecht
Abstract
In the past, empirical research findings from psychosciences contributed to avoiding erroneous judgments and decisions in criminal proceedings. However, for some time now, developments have arisen that threaten to reverse the achievement at the turn of the millennium that introduced a clear scientific orientation into sex offense proceedings. This article highlights five retrograde developments and uses three examples to illustrate how these developments can interact and, in particular, offer a purported explanation for a lack of memory of experienced abuse. This creates a breeding ground for the formation of false memories that cause suffering in both psychotherapy and criminal proceedings, and it significantly increases the risk of erroneous decisions in criminal proceedings on sex offenses in German-speaking countries.
Keywords: Statement Validity Assessment (SVA), victim protection, visibility of victims, false memory, criminal law for sex offenses
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Die Zeitschrift richtet sich auch an Vertreter:innen angrenzender Fachgebiete wie Justiz, Anwaltschaft, Ministerien, Gerichte, Rechts-, Sozial- und Kriminalpolitik sowie im Bereich der sozialen Arbeit Tätige.
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