„Wie lange hat das Ganze denn gedauert?“ – Genauigkeit retrospektiver Zeitdauerschätzungen von emotionalen Ereignissen unterschiedlicher Valenz

Lisa Datschewski, Jonas Schemmel & Renate Volbert

Praxis der Rechtspsychologie 32 (2), November 2022, S. 93–114
Deutscher Psychologen Verlag GmbH, Berlin
https://doi.org/10.51625/pdr20220204

Zusammenfassung

Die vorliegende Untersuchung wurde durch einen strafrechtlichen Fall angeregt, in dem die Frage relevant war, ob und ggf. in welchem Umfang die zeitliche Dauer eines belastenden Erlebnisses in der retrospektiven Betrachtung überschätzt werden kann. In einem 2×2 between-subjects Design wurde 118 Probanden jeweils ein Video gezeigt, das mindestens ein mittleres Maß von Arousal erzeugte. Variiert wurde die Valenz (positiv/negativ) sowie die Dauer des Videos (2 min/5.5 min). Während der Präsentation waren die Teilnehmenden nicht informiert, dass es um Zeitschätzung geht. Nach einer Woche wurden sie gebeten, eine Zeiteinschätzung abzugeben. Als abhängige Variable (AV) wurde die absolute Zeiteinschätzung sowie die proportionale Abweichung von der realen Zeit erfasst. Der Einfluss der Variablen Arousal und Komplexität der Handlung des Videos wurde kontrolliert, erreichte jeweils aber keinen statistisch signifikanten Einfluss im Modell. Kovarianzanalysen ergaben, dass die längeren negativen Videos – absolut und proportional – als signifikant länger eingeschätzt wurden als die längeren positiven Videos, während sich ein entsprechender Valenz-Effekt bei den kurzen Videos nicht fand. Die proportionale Abweichung von der realen Dauer erwies sich valenzübergreifend bei den kürzeren Videos stärker ausgeprägt als bei den längeren.

Schlüsselwörter: Retrospektive Zeitschätzung, Zeitwahrnehmung, Arousal, Valenz, Erinnerung, Zeugenaussage

Abstract

The present study was motivated by a criminal case in which the question arose as to whether and, if so, to what extent the temporal duration of a stressful experience can be overestimated in retrospective evaluation. In a 2×2 between-subjects design, 118 subjects were each shown a video that produced at least a medium level of arousal. The valence (positive/negative) and the duration of the video (2 min/5.5 min) were varied. During the presentation, participants were not informed that time estimation was involved. After one week, they were asked to give a time estimate. As dependent variables, absolute time estimation and proportional deviation from real time were measured, and it was controlled for arousal and complexity of the video. Covariance analyses showed that long negative videos – absolutely and proportionally – were rated as significantly longer than the long positive videos, while a corresponding valence effect was not found for the short videos. The proportional overestimation from the real duration showed to be more pronounced independent of valence for the short videos than for the long ones.

Keywords: Retrospective duration estimation, time perception, emotional events, arousal, valence, memory, testimony

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