Glaubhaftigkeitsbegutachtung im Kontext des Opferentschädigungsgesetzes (OEG)

Luise Greuel

Praxis der Rechtspsychologie 32 (2), November 2022, S. 65–91
Deutscher Psychologen Verlag GmbH, Berlin
https://doi.org/10.51625/pdr20220203

Zusammenfassung

Die aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsbegutachtung ist in der forensischen Praxis seit vielen Jahrzehnten etabliert, im Straf- und Sozialrecht normativ bestätigt und durch eine Fülle empirischer Forschungsarbeiten abgesichert. Im Opferentschädigungsrecht haben wir es häufig mit Fallkonstellationen zu tun, bei denen gleichzeitig mehrere problematische Einflussfaktoren auf die Aussagetüchtigkeit und Aussagezuverlässigkeit auftreten: (1) Vorbringen vermeintlich lang vergessener Missbrauchserlebnisse in der frühen Kindheit, die (2) in langjährigen therapeutischen Prozessen erstmals erinnert werden, wobei (3) Betroffene häufig unter schweren psychischen Störungen leiden, die unmittelbar die höheren kognitiven Funktionen betreffen. Am Beispiel von dissoziativen Störungen, die per Definition die psychischen Funktionen der Realitätsüberwachung und des autobiographischen Gedächtnisses beeinträchtigen, werden typische Probleme der Begutachtung diskutiert. Dabei wird aufgezeigt, dass der vermeintliche Antagonismus zwischen Aussagepsychologie und Psychotraumatologie im narrativen Diskurs konstruiert und nicht durch empirische Belege untermauert ist. So weisen beispielsweise auch die Richtlinien der International Society for the Study of Trauma and Dissociation zur Behandlung von Patientinnen und Patienten mit dissoziativer Identitätsstörung ausdrücklich auf die Gefahren der Implantation von Scheinerinnerungen im therapeutischen Prozess hin. Abschließend wird für eine Intensivierung des interdisziplinären Austauschs mit allen am OEG-Verfahren beteiligten Berufsgruppen plädiert.

Abstract

During the last decades, psychological credibility assessment has been established in forensic practice, normatively confirmed by the jurisprudence of the supreme courts and empirically confirmed by a large number of empirical studies. In the context of crime victims compensation act, experts have often to deal with cases being characterized by multi-problem situations directly affecting the person´s competency to testify as well as statement validity: (1) reporting of long-forgotten sexual abuse in early childhood, (2) being recovered for the first time in long-term therapy by (3) a person suffering from severe psychological disorders affecting the higher cognitive functions. Using the example of dissociative disorders which impair, by definition, reality monitoring and autobiographical memory, typical problems of credibility assessment will be discussed. It will be demonstrated that the alleged antagonism between memory research and psychotraumatology has been constructed by narrative discourse rather than empirically proven. Thus, for example, the guidelines for treating dissociative identity disorder of the International Society for the Study of Trauma and Dissociation explicitly point out that false memories can be implanted during therapy. Finally, it is recommended to strengthen the interdisciplinary discourse between all professionals being engaged in services within the crime victims compensation act.

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